Konzertkritiken
Meine musikjournalistischen Aktivitäten betreffen im wesentlichen Konzerte von Ur- und Erstaufführungen zeitgenössischer, noch lebender Komponisten, weil die Wahrscheinlichkeit, ein solches Werk überhaupt oder ein zweites Mal zu hören, gegen null geht, wenn man nicht bei dieser einzigen Gelegenheit dabei war. Erschwerend kommt für den Konzertbetrieb dazu, dass unbekannte Werke und Komponisten aus Feigheit vor schlecht besuchten Konzerten entsprechend selten aufgeführt werden. Man gibt sich in der Programmgestaltung Klassischer Konzerte tendenziell sehr konservativ – ausgenommen Konzerte, die ausdrücklich für so genannte Neue Musik als Reihe konzipiert werden, wie sie z.B. der Deutschlandfunk oder WDR5 durchführen. Deshalb sind solche neuen Werke für die Konzertkritik viel wichtiger als eine Berichterstattung über die Interpretation von Repertoirestücken, die sowieso in ungezählten Einspielungen käuflich sind. Bei jenen steht ein Dirigent, Orchester oder Solointerpret im Fokus und nicht das Werk selbst, was einer CD- und Schallplattenkritik gleich kommt. Für Uraufführungen gibt es logischerweise keine Aufnahmen, möglicherweise aber für ausländische Konzertstücke, die in Deutschland als Erstaufführungen gespielt werden. Um so wichtiger sind von ihnen Konzertkritiken, weil ohne Aufnahme überhaupt keine Chance besteht, über eine Komposition etwas zu erfahren, die noch niemand kennt.
Das Konzertprogrammheft des Abends ist für eine Kritik anregend, aber längst nicht immer hilfreich, weil es sich an ein elitäres, musikalisch gut vorgebildetes Konzertpublikum richtet und gerne Dinge beschreibt, die man nicht hören, sondern nur analytisch in der Partitur nachweisen kann oder die aufgrund von Vorgesprächen mit den Komponisten angesprochen wurden. Dabei klafft die Selbstdarstellung mit der Hörwahrnehmung des Publikums gerne weit auseinander. Was dem Komponisten zu schreiben/zu sagen wichtig ist, muss nicht für das Publikum interessant sein und umgekehrt. Im letzteren Fall habe ich Konzerte erlebt, in denen Instrumentenpräparationen, seltene Instrumente (endlich auch mal ein Saxofon, eine Bassflöte oder Kontrabassklarinette usw.) oder Effekte einkomponiert wurden (z.B. ein Akkuschrauber), die im Programmheft mit keiner Silbe erwähnt wurden.
Britta Byström (* 1977): Trompetenkonzert Nr.2
Deutsche Erstaufführung vom 9.-11.3.2014
Die schwedische Komponistin Britta Byström (Jahrgang 1977) hat mit diesem Auftragswerk des Kölner Gürzenichorchesters nun schon das zweite Trompetenkonzert geschaffen, das von ihrer Landsfrau Tine Thing Helseth am 9ten bis 11ten März 2014 in der Philharmonie erstmalig in Deutschland erklang (die Uraufführung fand 2013 in Schweden statt). Damit haben wir zwei immer noch sehr ungewöhnliche Phänomene in der Kunstmusik, die dieses Konzert zur Pflichtveranstaltung machen: Frauen in der Männerdomäne. Die künstlerische Leistung beider Personen ist vollkommen überzeugend, denn die solistische Darbietung der Trompeterin ist freilich überhaupt nicht zu hinterfragen. Weltweit teilt sich die erst 24jährige Tine Thing Helseth die trompeterische Weltspitze mit bloß einer anderen Kollegin aus England, Alison Bolsom, wo sonst traditionell ausschließlich Männer an der Trompete, vor allem als Konzertsolisten, das Feld säumen. Dem an zeitgenössischer Musik interessierten Publikum sind wahrscheinlich Komponistinnen wie Adriana Hölsky, Sofia Gubaidulina, Isabel Mundry oder Olga Neuwirt (sie schrieb ebenso ein Trompetenkonzert) bekannt, nicht aber Britta Byström, was sowohl für diese als auch die Trompeterin eine hervorragende Konstellation ist, mit diesem Trompetenkonzert auf Tournee zu gehen, um sich gegenseitig bekannt(er) zu machen. Bisher hat Tine Thing Helseth natürlich zwecks Marketing nur CDs veröffentlicht, in denen sie beweist (und „als Frau“ offensichtlich immer noch beweisen „muss“ (?)), dass sie mit traditionellen Bekanntheiten und Schlagern der Trompetenliteratur den Männern in nichts nachsteht, aber ihre (internationale) Bekanntheit beschränkt sich derzeit eben nur auf Insider, also Trompeter. Jetzt wagt sie sich auf das Gebiet der Neuen Musik vor und dürfte insbesondere ihrem längst darauf spezialisierten und international etablierten Landsmann Håkan Hardenberger Konkurrenz machen.
Das etwa 23minütige Trompetenkonzert Screen Memories ist formal einsätzig, aber selbstverständlich gliedert es sich durch gekonnte Orchestration in etwa zwölf deutlich unterscheidbare Einzelabschnitte. Es orientiert sich manchmal an der Grenze hin zur Tonalität und zitiert ein bisschen Liedgut, wobei die Quinte deutlich hörbar eine wichtige motivische und strukturelle Rolle spielt. Der Ton g ist in der Trompete erster, tiefster und letzter, während das klingende d“‘ für kurze Augenblicke der höchste ist (Quinte darüber!). Die Komponistin versteht viel von Klangfarben und transparenter Instrumentation, denn Tamburin, Woodblock, Peitsche und Triangel werden nicht nur als einmaliger Effekt, sondern rhythmisch eingesetzt und das Tutti wird immer wieder für mehrere kleinere Kadenzabschnitte bis zum Verstummen ausgedünnt. Hermeneutisch bedingt wird sogar das völlig atypische Regenrohr (Rainmaker) als Perkussionsinstrument eingesetzt. An dieser Stelle wird bewusst, warum der Konzerttilel Screen Memories heißt, wenn einige dafür anregende Erinnerungen mit bildhaften Eindrücken vom Regen verbunden sind. Wawa-Dämpfer werden nur für die Tutti-Trompeten vorgeschrieben, nicht aber wawa gespielt, denn nur der unmanipulierte Dämpferton soll zu hören sein. Die Solotrompete braucht bloß den Cup-Dämpfer. Hier gibt sich die Komponistin bescheiden, obwohl es ein halbes Dutzend typische Trompetendämpfer gibt, die zum Standardzubehör jedes Berufstrompeters gehören. Ebenso verzichtet die Komponistin auf das Verlangen von – oder den Wechsel zu – Spezialtrompeten (D, Es, Piccolo, Flügelhorn).
Was den Solotrompetenpart angeht, fehlen hier die für traditionelle Trompetenstücke sonst so beliebten Doppel- und Tripelstaccatoläufe, wie sie in Konzerten von Alexander Arutjunjan, Henri Tomasi oder André Jolivet vorkommen (danke, wir kennen das zur Genüge). Anstelle derselben werden oft Flatterzunge (und Flatterzungenläufe), eine kurze Stelle mit Mikrotönen, viele Schwelltöne sowie die selten zu hörenden Tremoli („Timbretriller“) auf verschiedenen Spezialgriffen mehrfach verlangt. Das Tremolo scheint in der zeitgenössischen Trompetenmusik zunehmend das Doppelstaccato zu verdrängen. Es ist in seinem Tempo mechanisch beliebig gestaltbar, allerdings nicht auf beliebigen Tönen zu spielen. Sehr selten werden in Trompetenkompositionen reine Mundstücktöne verlangt, zum Beispiel am Ende des Trompetenkonzerts des Finnen Leif Segerstam (* 1944). Die musikalisch brauchbare Tonerzeugung und Intonation nur auf dem Mundstück ist schwierig genug, weil schließlich der Ton nirgendwo einrasten kann (Naturtonreihe) und seiner typischen Trompetenklangfarbe komplett beraubt wird. Hier bei Britta Byström haben wir solche Mundstücktöne (Tonumfang b bis g“) einschließlich Glissandi in einer sehr zart kammermusikalisch instrumentierten Passage. Diese lässt sich als Mundstückkadenz bezeichnen, weil das Mundstück hier melodische Aufgaben hat und solistisch hervortritt.
Wollen wir hoffen, dass Tine Thing Helseth dieses Konzert auf CD einspielt, weil es sich lohnt, es über den Kennerkreis von Trompetern hinaus zu hören, wie auch Klavier-, Cello- und Violinkonzerte freilich nicht nur von Instrumentenkennern gehört werden. Sofern die Komponistin dafür schon einen Verlag gefunden haben sollte, möge jener dieses Trompetenkonzert nicht nur als leihbares Aufführungsmaterial herausgeben, sondern auch als Klavierauszug mit Solopart, denn bei aller Virtuosität ist es dem studentischen Trompetennachwuchs zuzumuten, weil die Komponistin der Trompete eben nicht alles in einem Konzert abverlangt, was mit ihr technisch möglich ist (vor allem keine extreme Höhe oberhalb des notierten e“‘).
„The Photographer“
Philipp Glass (Komp.) / Rob Malasch (Dialoge) / Safy Etiel (Video) / Eadweard Muybridge (Fotos) / David Byrne (Songtexte) / Shang-Chi Sun (Regie & Choreogr.)
Ein deutsches Sprichwort sagt: viele Köche verderben den Brei. Stimmt das für diese Aufführung? Diese gemischt mediale Produktion kombiniert nicht nur vier verschiedene Darstellungsformen, sondern auch sechs Autoren und Urheber. Das bereitet Probleme, die Aufführung als Gesamtwerk einheitlich zu beurteilen, weil fairerweise alle Künste einzeln beurteilt werden müss(t)en, wobei die Ausführenden einschließlich Klang- und Lichtregie hier noch gar nicht inbegriffen sind. Die Darstellung ist Kino und Diashow, Theaterstück, Ballett und Konzert in einem, allerdings durch die gewählte Reihenfolge nicht alles gleichzeitig. Lediglich der Bereich Oper fehlt, weil die drei Bühnendarsteller nicht singen. Die auftretenden Personen und ihre Dialoge in der gesamten Aufführung geben wörtlich das wieder, was sich in Zeitungsmeldungen und Gerichtsakten von 1875 vorfand, demjenigen Jahr, in welchem der Fotograf wegen Ehrenmordes angeklagt, aber wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freigesprochen wurde. Bühnendarsteller und alle MusikerInnen – auch der Chor aus sechs Frauen – werden mit Mikrofonen verstärkt. Wozu? Die Akustik der Kölner Philharmonie ist exzellent und es gibt keine Zuspielmusik oder O-Töne. Die Bühne ist bis auf die Akteure leer, keine Requisiten. Im Hintergrund die Leinwand, links und rechts am Bühnenrand die MusikerInnen. Das Instrumentalensemble besteht aus 11 Leuten: Streichquartett, 2 Posaunen, 2 Hörner, Flöte und interessanterweise Alt- und Sopransaxofon. Diese Produktion ist für bloß drei Inszenierungen in Berlin, Köln und Paris vorgesehen.
Nach dem Schließen der Einlasstüren wird der Saal abgedunkelt, aber die Aufführung hat schon begonnen, denn die Darsteller (ebenso alle Sängerinnen und Musiker) sind bereits während des Einlasses auf der Bühne und trotzen so unmerklich in Zeitlupe einer Standbildstarre, dass man ihre Bewegungen kaum bemerkt. Die Darsteller sind zeitgenössisch gekleidet und barfuß, zwei Männer, eine Frau. Dies ist eine von mehreren Fehlentscheidungen des Regisseurs und Choreografen Shang-Chi Sun: der dramaturgische Text sieht sechs Personen vor, aber das war wohl zu teuer, so dass der schauspielerische Teil mit nur der Hälfte besetzt wurde. Weitere Fehlentscheidungen sind, dass für diesen Teil, wo überhaupt nicht getanzt wird, die Darsteller nicht barfuß rumlaufen müssen und sich obendrein fast überhaupt nicht bewegen. Sie stehen wie Schaufensterpuppen auf der Bühne und gestikulieren nicht. Deren gesprochene Texte könnten auch vom Tonband kommen, weil man sie gerade aus der letzten Sitzplatzreihe nicht den Personen zuordnen kann, wenn sie nicht mit schauspielerischen Darstellungen verbunden werden. Die Mikrofonverstärkung ihrer Stimmen, die über die Lautsprecher völlig isomorph wiedergegeben werden, erschweren die Ortung, wer da gerade redet. Ab und zu bewegen sie sich mal, aber die künstlerische Verantwortung dafür tragen ja nicht sie, sondern der Regisseur und Choreograf in Personalunion. Die schauspielerische Leistung ist mit Sicherheit das Schlechteste der ganzen Aufführung. Man fühlt sich an Bertold Brechts abstraktes Theater erinnert, wo schauspielerisch auch nichts passiert und die Dialoge absoluten Vorrang haben.
Nur im letzten Abschnitt (Part 3), dem Tanzteil, gibt es verständlicherweise darstellerisch ernst zu nehmende Aktionen. Dieser Part 3 wirkt überhaupt nicht so, als hätte er irgend etwas mit dem Titel der Veranstaltung zu tun und könnte deshalb genauso gut gänzlich autonom ohne den Rest aufgeführt werden – wie übrigens ebenso die musikalische Darbietung, bei der das seit 1982 sogar schon vorgekommen ist. Aus der tänzerischen Darbietung wird selten deutlich, wann es Absicht sein soll, dass sich die Tanzenden exakt zur Musik bewegen, wann sie improvisieren und wann sie sich unabhängig von der Musik bewegen. Wenn sie sich aber mal abgestimmt auf die Musik bewegen, so kurz oder episodenhaft das auch ist, ist das bei der Musik von Philip Glass, dem Begründer der Minimalmusic, immerhin deutlich zu erkennen. Für die Nichteingeweihten: Minimalmusic ist ausschließlich repetitiv aufgebaute Musik, bei der minutenlang traditionelle, arpeggierte Durmollakkorde und Melodiemotive in metrisch klar strukturierten Taktarten so lange wiederholt werden, bis eine komponierte, ‚minimale‘ Änderung eintritt (daher der Name).
Die Aufführung kommt nicht ohne die Dia- und Videosequenzen aus, die mitunter ineinander gemischt und überblendet werden. Aus Standbildern des Fotografen werden bewegte und umgekehrt. Sie wandern über die Leinwand und füllen sie. Das ist freilich im Part 2 zu sehen, wenn die drei Darsteller die Bühne verlassen haben. So gesehen ist dies der Konzertkinoteil der Veranstaltung. Der Dia- und Videokünstler Safy Etiel hat inspiriert von der Minimalmusic entsprechend repetierte Filmschleifen angefertigt, die aus den historischen Originalfotos von Eadweard Muybridge bestehen, der seinerzeit als erster Bewegungen in fotografischen Einzelbildern festgehalten hatte. Safy Etiel setzt sie wieder zur Bewegung zusammen, Menschen und verschiedene Tiere. Andere rein artifizielle Filmszenen simulieren ebenfalls maschinelle, repetitive Bewegungen, die sich deutlich auf die Musik von Philip Glass beziehen, allerdings nicht synchronisiert wurden. In den anderen Aufführungsabschnitten mag man sich fragen, welchen Sinn solche Dia- und Filmsequenzen haben, da die Kombination sämtlicher Medien und Darstellungsformen ihren Preis hat, nämlich in der Reizüberflutung. Man stelle sich ein Hörbuch vor, bei dem man ja auch nichts sehen kann und braucht, aber für eine Hörbuchversion muss man sich zumindest nicht in die Philharmonie setzen und für einen Kinofilm ebenfalls nicht.
In dieser Aufführung ist ausschließlich der Part 3 mit dem Tanz für das Auge unumgänglich, da im Konzertteil die Filmsequenzen ja nicht untrennbar und synchron mit der Musik als symbiotische Einheit wie in einem Kinofilm verbunden sind und unabhängig von jener hinzuerfunden wurden (sie stammen nicht aus der Uraufführung von 1982).
Patrick Loiseleur: Liebe und Leben eines Schmetterlings
Kammerkonzert in der Kölner Philharmonie Samstag 12.9.2015 um 15:00 Uhr, Mitglieder des Gürzenich Orchesters
Der französische kompositorische Neuling Patrick Loiseleur, Jahrgang 1975, ist hauptberuflich wissenschaftlicher Informationsmathematiker und wird ähnlich wie der Komponist Charles Ives (1874-1954), der hauptberuflich Versicherungsangestellter war, und der unbekannte Komponist Jean Cras (1879-1932), der Marineoffizier war und im selben Konzert mit einem Werk ebenso gespielt wurde, nur nebenberuflich bzw. auf Umwegen seine Kunst ausüben und veröffentlichen können. Er hatte schon auf Umwegen als Spätentwickler zur Musikausbildung gefunden. Nach eigener Aussage wurde er durch die französische Musik von Ravel und Messiaen bis Grisey beeinflusst und strebt völlige künstlerische Autonomie an: er braucht keine Wettbewerbe gewinnen, Aufträge erhalten, anderen Komponisten oder dem Publikum gefallen, sondern das überlässt er dem Zufall. Ein solcher sorgte auch für den Kompositionsauftrag dieses Stücks in der Besetzung Flöte, Harfe und Streichtrio, weil den Komponisten der französische Bratscher des Gürzenich Orchesters kennt, der in dieser Besetzung die Uraufführung mit seinen KollegInnen spielte. Leider war der Komponist in zeitliche Bedrängnis geraten und konnte das Werk noch nicht fertig abliefern, so dass nur zwei von mindestens drei Sätzen uraufgeführt wurden. Patrick Loiselier hält seinen Kompositionsstil für unklassifizierbar, weil sich darin Vermischungen und Brüche, Elemente tonaler Musik wie serielle Elemente abwechseln oder bruitistische und archaisierende in Schichtungen vorkommen. Der erste Satz soll das Leben einer Raupe bis zur Verpuppung namentlich als „Nachtstück“ darstellen. Der zweite, der „Erstflug“ heißt, meint die Zeit nach der Metamorphose. Beide Sätze zusammen dauern ca. vierzehn Minuten.
Das Stück beginnt mit einem sehr kurz gekratzten Cluster der Streicher (Pressdruck des Bogens) und wird mit Klopfgeräuschen der Bogenspannschraube auf der Kinnplatte von Geige und Bratsche wie auch der flachen Hand auf den Harfenkorpus fortgesetzt. Die Flöte erzeugt „Flugwind“ oder nächtliches Blätterrauschen durch starkes, obertonreiches Überblasen, Flatterzunge und Rauschen, zusätzlich sorgt sie noch für typisch vogelmäßige Triller und Gesänge (auch wenn Vögel nachts gar nicht singen), immer zart, zaghaft und schüchtern. Knackende Äste werden durch Pressbogendruck vom Cello gespielt – mit einiger Fantasie lässt sich bei all dem Geknacke, Gekratze, Gesäusel und Insektengeschwirre, das bei leichtestem Bogendruck im fast unhörbaren Pianissimo an der Hörbarkeitsgrenze durch die Geige erzeugt wird, die Vorstellung eines Waldes assoziieren. Die Harfe symbolisiert wahrscheinlich Wind und Wetter, weil sehr viele atonale Glissandi ungedämpft erschallen und ein sehr agiles, farbiges Rauschen erzeugen. Zu hören ist auch derjenige Harfeneffekt, bei dem ein Pedal nach dem Zupfen erst noch getreten wird, so dass ein labberiges, anschlagendes, schnarrendes Glissando aufwärts oder abwärts erklingt.
Der erste Satz, der genau neun Minuten dauert, ist dem Hören nach also überwiegend von Geräuschaktionen geprägt, die sich auf das Waldleben zu beziehen scheinen und aleatorisch wirken. Traditionelle Spielweisen werden selten gebraucht. Ein Blick mit dem Fernglas in die Noten nahe hinter den Musikerinnen lässt kaum einen anderen Schluss zu, so dass offensichtlich auf eine Notation verzichtet wurde, die exorbitant mit kleinsten Notenwerten und ihren komplexen Aufteilungen überfrachtet wurde, wie man das von Helmut Lachenmann oder Matthias Spahlinger kennen dürfte. Die Musikerinnen spielen deshalb bei aller Konzentration relativ gelassen und müssen weniger in den Noten kleben, als sich auf die Ausführung der geforderten Spieltechniken zu konzentrieren. Meistens geht es im ersten Satz sehr leise zu und die Flöte hat die Hauptstimme.
Der zweite Satz ist sehr konträr zum ersten und lässt an Klangwolken denken, weil Harfe, Geige und Bratsche zunächst einen metrisch gebundenen Klangteppich spielen und kurz später zu einer Kollektivbegleitung übergehen, um dem Cello und der Flöte im Zwiegespräch Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Es bildet sich feste Rhythmik heraus. Tatsächlich gibt es doch ein Da Capo mit der exakten Wiederholung der ersten drei Minuten, was an den leitmotivisch gearbeiteten Einzelstimmen und der charakteristischen Instrumentation gut zu erkennen ist. Diese Stelle ist erheblich konsonanter und traditionalistischer komponiert, so dass man sich an expressionistische Stilistiken zu Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert fühlt. Kurzzeitig wird freie Tonalität gestriffen, eher freie Harmonik, die auf der Grenze zwischen Tonalität und Atonalität liegt. Cello und Flöte bleiben die Stimmführer. Vielleicht ist, wenn die Komposition einmal fertig sein wird, dieser Satz als „Intermezzo“ zu hören, der als einziger stilistisch und klanglich nicht in unserem frühen 21. Jahrhundert anzusiedeln ist.
Schon diese beiden ersten Sätze zeigen, dass der Komponist weder Avantgardist noch Anachronist ist und sich auf zeitgenössische wie auch konventionelle Ausdrucksmittel gut versteht. Man mag sich fragen, warum das Werk unvollendet aufgeführt werden musste, denn die Vollendung kann ja abgewartet werden, weil sie für kommendes Jahr (2016) angekündigt ist. Ist ein Versprechen des Komponisten eingelöst worden, Musik zu liefern, oder ein Versprechen des Bratschers, auf jeden Fall Loiseleurs Musik zu spielen, so weit sie eben gerade fertig wurde? Fassen wir uns also in Geduld und bleiben wir neugierig, was nächstes Jahr noch kommen soll und wie dieses Werk fortgesetzt wird. Wenn dann von Satz zu Satz vielleicht Polystilistik entsteht, wie sie für Kompositionen Alfred Schnittkes typisch ist, wäre Loiseleurs Musik doch nicht so ganz unklassifizierbar, um uns noch mehr von der Liebe und dem Leben eines Schmetterlings zu erzählen.
Konzertkritik HJ Lim Sonntag 24.1.2016, Essener Philharmonie 11:00
Geschwindigkeit geht über alles
Im Programm zu hören waren folgende Stücke: F.Chopin: die Balladen 1-4 (Op. 23, 38, 47, 52), Maurice Ravel: Gaspard de la nuit sowie Claude Debussy: L’isle joyeuse.
Kaum jemand traut sich zu, das Klavierwerk Gaspard de la nuit live zu spielen, weil es von den kanonisierten Klavierwerken, die zum Virtuosenrepertoire zählen, als das schwerste aller Zeiten gilt und deshalb sonst nur auf CD/Schallplatte zu hören ist. Allein das einmal live zu hören lohnt weite Anreisen. Was hat HJ Lim daraus gemacht? Eine mit Hochgeschwindigkeit gedrehte Pianowalze. Das Ergebnis vor allem der Ecksätze hörte sich an wie die spät entdeckten Pianolakompositionen von Conlon Nancarrow. Jene sind so schnell, dass sie von Menschen nicht mehr gespielt werden können, sondern nur noch maschinell. HJ Lim hat sämtliche Kompositionen in viel zu hohen tempi gespielt, auch die Balladen, deren Name doch bereits ruhiges, verhaltenes, andächtiges Tempo assoziiert, ja voraussetzt. Ein wenig gab es doch Tempoveränderungen, nämlich immer an Formteilwechseln, die die Pianistin mit abruptem Anhalten oder Zögern markierte. Von Agogik und Ausdruck war keine Spur zu hören, bestenfalls zu sehen (sie spielt sehr gestikulierend und mit affektierter Mine), alles musste extrem hastig runtergeklimpert werden und zwar so schnell, dass viele Klangfarben, die durch Stimmengeflechte (Polyphonie) und Stimmenüberlagerungen beider Hände erst entstehen, miteinander verschmolzen und verwischt wurden. Die Linien wurden zu pumpenden, klebrigen Flächen und die Phrasierung litt sehr unter den hohen Tempi, aufgrund derer vieles ineinander über ging, was als Abschnitt und Einheit getrennt voneinander hätte herausgearbeitet werden müssen – z.B. der Rangunterschied von Ober- und Unterstimme bzw. Melodie und Begleitung. Einem Konzertpublikum, das sich herausfordernde, virtuose, bekannte Repertoirestücke der Klaviermusik anhören will, müssen keine Tastendrückrekorde dargeboten werden. Es geht nicht um Geschwindigkeit, so als sei alles in 32stel-Noten aufgeschrieben und der Künstler unter Zeitdruck. Das ganze Konzert wurde ohne Pause am Stück vorgetragen. Kein Durchatmen war draußen im Foyer möglich. Die Gesamtwirkung des Konzerts war, als ginge es darum, als internationaler Neuling in der unüberschaubaren Pianistenwelt immer noch beweisen zu müssen, nicht nur technisch perfekt zu sein, sondern die schnellste von allen, entgegen jeder Werktreue. Auf diese Weise erklangen die vier Chopin-Balladen sehr homogen und gleichgeschaltet zueinander, obwohl sie alle einen sehr unterschiedlichen Charakter haben.
HJ Lim gab nach dem aufgelisteten Konzertprogramm noch zwei Zugaben: eine Eigenkomposition und den Minutenwalzer von F. Chopin. Die Eigenkomposition ist vorerst weder als Noten noch als Aufnahme zu bekommen. Sie hätte ihr Eigenwerk durchaus ankündigen können und hatte wohl Sorge, als Klavierkomponistin nicht ernst genommen zu werden. Nun, dann sollte sie sich den Kollegen Fazil Say zum Vorbild nehmen, der eine ganze CD mit Eigenkompositionen veröffentlicht hat. Nur sie selbst kann ihre eigenen Kompositionen perfekt interpretieren und werktreu spielen. Das gelang ihr jedenfalls nicht für die anderen Kompositionen Chopins, Ravels und Debussys.
Zur Person:
Die Pianistin HJ Lim hatte schon mit drei Jahren das Klavierspielen begonnen und übersiedelte als Elfjährge mit ihrer Mutter (der Vater war dagegen) für europäischen Klavierunterricht nach Frankreich ins Heimatland französischer Komponisten, wo sie mit fünfzehn Jahren die jüngste Absolventin am Konservatorium in Rouen wurde. Anschließend studierte sie in Paris am Nationalkonservatorium. Sie hat eine so genannte Wunderkinderkarriere hinter sich und spielte schon mit 22 Jahren als jüngste, die das bisher getan hat, sämtliche Klaviersonaten von Beethoven auf CD ein. Heute ist sie 27 Jahre alt.
Im Anschluss an das Konzert gab HJ Lim noch ein moderiertes Interview auf englisch. Sie spricht mindestens 3 Sprachen (koreanisch, französisch, englisch), versteht deutsch, beantwortete Publikumsfragen und erklärte zur Aussiedelung nach Frankreich, dass die Entscheidung dazu zwischen den widerstreitenden Eltern von einem spirituellen Weissager, der extra konsultiert wurde, zu ihren Gunsten gekippt wurde.
Sie erklärte ferner, dass sie von konservativen Interpretationstraditionen nicht viel halte und lieber nur ihre persönliche Fassung eines Klavierstücks aufführe. Sie begründete das damit, dass Komponisten in der Zeit des Barock, Impressionismus, der Vorklassik, Wiener Klassik, Romantik, Klassischen Moderne und anderen Stilepochen zu ihrer Zeit gar kein Bewusstsein für einen Epochenstil hatten, einfach nach Geschmack und Bedarf komponierten und diese Labels von Musikwissenschaftlern ja mit großem historischem Abstand nachträglich vergeben wurden. Es gab keine präzisen Tempoangaben mangels Metronom (das erst auf Anregung von Beethoven im 19.Jahrhundert erfunden wurde) und deshalb sei sowieso alles künstlerische Auslegungssache, wie ein Klavierstück gespielt werde. Diese freilich sehr ahistorische Geisteshaltung verkennt die Gepflogenheiten, nach denen es doch immer noch einen profunden, allgemein anerkannten Konsens gibt, in welche stilistische Richtung eine konzertante Interpretation zu verorten ist, was durch die kulturelle Weitergabe von Klaviermusik über Lehrmeister, Unterricht, Konzerte und seit dem 20. Jahrhundert auch durch Tonaufzeichnungen belegt wird. All das zählt für die Pianistin HJ Lim wenig und interessiert sie auch nicht wirklich, wie im Konzert zu hören war; sie hat es im Interview bestätigt. Ihr Klavierrepertoire endet im frühen 20. Jahrhundert.