Pendenzen = Zwei-Akkord-Songs
Der Name ist musiktheoretisch neu, bezeichnet das ständige Abwechseln von bzw. Pendeln (lat. pendere = hängen) zwischen genau 2 Akkorden und ist an das Wort Kadenz angelehnt. Ich führe diesen Begriff deshalb ein, weil es erstens kein Wort für solche Harmoniegestaltungen gibt und zweitens der Unterschied zwischen solchen Strukturen und allen anderen deutlich werden muss, in denen wenigstens 3 Akkorde verwendet werden. Frank Haunschild bezeichnet sehr eingeschränkt diesen Harmonievorgang als Pendelakkord und das auch nur dann, wenn die Akkordverbindung 8 1 (acht-eins) oder 1 8 (eins-acht) vorkommen (er benennt die 8 ausnahmslos als doppelte Subdominante)[1] Es ist aber für den Nachweis einer Pendenz völlig unwichtig, welche Akkorde das sind, also in welchem harmonischen Verhältnis sie zueinander stehen oder wie sie gebaut sind (Grundakkord, Frakkord (Slashchord), Quartakkord usw.). Wichtig ist lediglich das regelmäßige Abwechseln/Pendeln zwischen ihnen, um Musikstücke, die solche Strukturen haben, kategorisieren und klassifizieren zu können. Die Beispielsongs in der Liste unten sind nur solche, in denen ausschließlich 2 Akkorde im gesamten Stück verwendet werden, ohne dass es Formteile mit anderen Akkorden gibt.[2] Solche 2-Akkord-Songs sind besonders beliebt in den Stilistiken House, Hiphop, Reggae, Merengue und R’nB (gängige Abkürzung für heutigen Rhythm and Blues), wie sich erst nach der Sortierung herausstellte. In der Klassik und im Jazz gibt es keine Pendenzen für komplette Kompositionen, bestenfalls Abschnittsweise. Sie sind eine eigene Entwicklung der Rockpopmusik.[3] Man wird allerdings in Volksliedern, Ländlern oder sogenannten Traditionals Belege für Pendenzen finden, zum Beispiel: What shall we do with a drunken sailor (sechs-fünf = 65), Ein Hase saß im tiefen Tal (eins-fünf = 15, von Boney M neu vertextet als Horray horray, it’s a holy holy day) oder Tom Dooley (eins-fünf = 15) und wird dabei nahezu ausschließlich auf Eins-Fünf-Pendenzen treffen. Ein solcher Umgang mit Harmonik wird in jüngster Zeit erst in nur zwei Quellen der Popularmusiktheorie angesprochen.[4]
>>Die vollständige Kadenz hat in der traditionellen Harmonielehre eine Art Monopolstellung, sie wird als einziges Akkordverbindungsprinzip systematisch gelehrt. Da der schließende Charakter der stabilen Funktionsfolge T-S-D-T fast zwangsläufig zu formalen Einschnitten führt, eignet sich die Kadenz in dieser Form weder für anfänge noch für Mittelteile, sie wird von den Klassikern daher in formal offenen Passagen selten oder nie benutzt. Viel häufiger ist der Wechsel zwischen nur zwei Hauptfunktionen.<<[5]
In der nachfolgenden Übersicht bekommen nur nachgewiesene Songs eine Doppelziffer. Die numerisch sortierte Liste ist also im Sinne der aufsteigenden, logischen Zählweise nicht komplett, wenn keine Songbeispiele entdeckt wurden. Hier wird Eins- Sechs (16) als Durtonart und Sechs-Eins (61) als Molltonart definiert, weil der dazugehörige Akkord an erster Stelle steht. Ansonsten ließen sich diese Pendenzen weder als Molltonart noch als Durtonart deklarieren, weil keine der beiden Toniken die Priorität hat. Alle Abweichungen (z.B. Durmollwechsel oder dass pro Takt nicht abwechselnd der andere Akkord kommt) werden in Klammern angegeben (z.B. 6663, sind auch nur 2 verschiedene Akkorde, aber eine asymmetrische Pendenz). Die korrekte Fixierung der Akkordstufen ist ohne die Melodie nicht möglich. Nur in deren Abhängigkeit kann vermieden und erkannt werden, dass z.B. 65 (sechs-fünf) nicht 32 (drei-zwei) ist oder 54 (fünf-vier) nicht 18 (eins-acht) und umgekehrt. Da Tonikaobligation[6] herrscht, sind zahlreiche theoretisch bildbare Pendenzen ausgeschlossen, darunter 98, 89, YZ, ZY und andere. Der Melodiemodus ermöglicht tatsächlich tonikalose Pendenzen, sonst wären diese gar nicht bestimmbar.Die Stufenziffern in Takten gerechnet sind gleich lang, so dass ein Akkordwechsel halbtaktig, ganztaktig, doppeltaktig oder viertaktig erfolgen kann. Es gibt Grenzfälle, wann ein Song in die Pendenzenliste einsortiert wird. Die Rede ist hier von Doppelpendenzen, womit gemeint ist, dass es einen zweiten Formteil gibt, der dem ersten inhaltlich und musikalisch weitgehend gleichgestellt ist und seinerseits nur aus einer Pendenz bestet, möglicherweise soger in Transposition der selben wie vorher. Ein Grenzfall ist z.B. der Song My generation von The Who, denn es handelt sich um ein reines Strophenlied, das aus einer 18-Pendenz besteht. Absolut gehört gibt es zwar mehr als 6 verschiedene Akkorde, sie befinden sich aber alle genauso auf den Stufen Eins und Acht, weil der ganze Formteil komplett um einen Halbtonschritt angehoben wird (chromatische Rückung) und strukturell keine neuen Akkordstufen enthält.
[1] Haunschild, Frank: Die neue Harmonielehre. Band 1 & 2, AMA, Brühl 1997 & 1998, Bd.2 S.97
[2] Allerdings gibt es unzählige Songs, die einzelne Formteile nur aus 2 Akkorden bilden (meist die Strophe), während andere dann mehr Akkorde haben. Diese werden aber hier nicht noch extra aufgelistet.
[3] Eine einzige weltberühmte Aussnahme ist im Jazz bekannt: So what von Miles Davis, ein modal angelegter Song, dessen zwei pendelnde Akkorde aber über den gesamten Formverlauf gelten, der dann um einen Halbtonschritt hochtransponiert wird
[4] Rooksby, Rikky: How to write songs on guitar. Voggenreiter, Bonn 2005, S.38 und Kramarz, Volkmar: Die Hiphopformeln, Voggenreiter 2009
[5] Möllers, Christian: Vom Unsinn der Modulationslehre. In: Die Musikforschung, Hrsg. C.-H- Mahling / W. Dömling, Bärenreiter, Kassel 1976, S.271
[6] Neues Wort: es meint, dass das Ohr hörpsychologisch in funktionstonaler Musik grundsätzlich sich eine Tonika sucht und auch immer eine konstruiert, wenn die harmonischen Stufen diese Interpretation zulassen. Das kann die 6 (Molltonika) oder 1 (Durtonika) sein, je nach Akkordgefüge. Wenn intervallisch keine Tonika lokalisiert werden kann (gibt es ja bei Pendenzen durchaus!), werden nie die erweiternden chromatischen Nebenstufen als Ankerpunkt gesucht, sondern immer nur die möglichen Hauptstufen.
Grundlage für die Angabe von Tonleiterstufen mit den dazugehörigen Akkorden ist mein neu entwickeltes System mit arabischen statt römischen Ziffern:
Der Ton einer nummerierten Taste bildet die Stufe und gleichzeitig den Grundton zu einem dazugehörigen Akkord innerhalb der Tonleiter. Dieser Akkord ist in aller Regel ein Dreiklang, kann aber auch ein Powerchord sein. Abweichungen von Dur werden mit dem Minuszeichen, Abweichungen von Moll mit dem Pluszeichen extra angegeben. Die Tastatur ist nur ein Symbol für alle Tonarten, die schließlich identisch gebaut sind wie C-Dur. Die chromatischen Töne 8 bis Z sind immer Durakkorde, sofern sie nicht mit dem Minuszeichen extra als Mollakkorde ausgewiesen werden.
Dur-Pendenzen (die 1 muss enthalten sein)
1 -1 12 13 Wolfsheim: Lovesong 14 (Plagalpendenz) 21 41 (Plagalpendenz) 51 (Authentische Pendenz) 81 (Rückung) |
1(-)5 (authentische Pendenz) Robbie Williams: Millenium (1-5) Lucio Dalla: Disperato, erotico, stomp Boney M: Horray horray, it’s a holy holy day Johnny Guitar Watson: Ain’t movin‘ Benjamin Diamond: U were born; Read in your mind The Equals (Eddy Grant): Baby come back Fatboy Slim & Eva: Cowboy Altered Images: Happy birthday Bebe Manga (Afropop): Ami O Mikey Murka: Stand firm (Reggae, 1-5) Ian Pooley (House): Venasque Jam & Spoon feat. Rea: Be angeled King Africa: La bomba Robin Thicke / Pharrell Williams: Blurred lines Ann Lee (Bravopop): 2 times16 Arrested Developement: People everyday Red hot chili peppers: Scar Tissue Malcolm McLaren: Mme Butterfly Inxs: Mediate The Rolling Stones: I’m alright (60er) Ian Pooley (House): Since then The Cassandra Complex: (in search of) Penny century Sono (EBM): Keep control18 (Rückung) Terence Trent D’Arby: Wishing well The Delinquent habits: Tres delinquentes Mytrafia (Reggae): Big banks Itals (Reggae): Don’t blame it on me Dub Syndicate: One in a billion Anastacia: Not that kind Anne Clark: Mundesley beach Joy Division: Transmission Marc Wonder (Reggae): Jah highway Cat Stevens: But i might die tonight[1] Tape Five: Pousse l’amour S 18, R Y1 (Doppelpendenz) Haysi Fantayzee (1983): Shiny shiny The Who: My generation Dua Lipa: Be the one Max Mathew (Reggae): Over and over1Z Sugar Babes (Girlgroup): Overload Y1 |
[1] Es handelt sich hierbei um eine Doppelpendenz, weil zwar faktisch 2×2 Durakkorde verwendet werden, diese dabei aber bloß durch Rückung bzw. Transposition der selben Akkorde auf eine andere Tonstufe verschoben werden, die den selben Formteil und den selben Melodieverlauf dieses Strophenliedes betrifft. Die Akkorde dieser Doppelpendenz stehen in keinem funktionalen Verhältnis zueinander.
Moll-Pendenzen (die 6 muss enthalten sein)
26 Melis (türkischer RnB): Susa’dik aksa Ayman (RnB): Du bist mein Stern Tiziano Ferro: Perdonno Brendy & Monica (RnB): The boy is mine Stephen Marley: Hey Baby Damian Marley (Hiphopreggae): In too deep Cashmere (Oldie 1980): Love’s what I want Lynnsha & D.DY: Hommes…femmes Fettes Brot: Mal sehn Pussicat Dolls: Dontcha Shawn Desman: Shock Rejuvination (Trance): Requiem Part 1 Keith Sweat (RnB): Things; Only wanna please you Amel Bent (frz. Popsängerin): Scandale Ayo (Soulsängerin): Life is real Sarah Connor: Bounce Maroon 5: This summer’s gonna hurt like a motherf***r Tre Black (Hiphop): Put ya back into it36 Dante Thomas: Get it on (+36) Montain Gordan (R’nB): Let’s ride Tono Rosario (Merengue): Yo me muero por Ella Xandro Y Su Punto (Merengue): Todo el mundo un quero, Tony Swing: Hit the dance floor Amel Bent (frz. R’nB): ScandaleMerengue: Raul Acosta y Oro Solido: Las mujeres quieren masi Richie Herrera & Gerardo Rosario: El Banda Tuya: Págame lo que me debes Tony Rivas: Una opportunidad Brother Band: Parrandon Parada Joven: preparence mujeres Ravel (Künstlername!): El muerto vivo Las Chicas del Pais: Lo tuyo es mio Hermanos Rosario: Ya viene el lunes Los Gitanos Tony Seval: El muerto 46 61 6(+)2 Hiphop: |
6(+)3 Soul 2 Soul: Back to life, back to reality Tragédie (frz. RnB-Duo): Savoir dire non (66+3+3); Toi et moi (6663) Damian Marley (Raggahiphop): Road to Zion Spice Girls: Spice up your life (+3) Gentleman (Reggae): Strange things; Lions den Mary J Blige: Family affair 112 (Hiphop): Peaches and cream (+3) Lumidee (RnB): Never leave you (“oh oh”) Old dirty bastard: Thirsty (Hiphop, Filmmusik zu Blade Trinity) DJ Branko (Afropop): Ghetto whitney Xandro y Su Punto (Merengue): Tocame el pito 2-4 Family: Stay Wilfrido Vargas: Te seguiré (6336) Black Messiah (Gothic Metal): Queen of darkness Redman / Method man (Rapperduo): How high Joy Denalane: Stranger in this land Gojah moon rockah (Darkwave): Geraldine Hot Banditoz: Que si, que no (6336) Xavier Naidoo: Abgrund Dr. Dre & The Chronic: Nothin‘ but A.G.thang Die Fantastischen 4: Tag am Meer Dr. Dre: Ring ding dong Mighty Dub Cats: Magic carpet („a ring ding ding ding“ mit „mexikanischen“ Trompeten) The Sisters of mercy: Ribbons (6+3) Söhne Mannheims: Babylonsystem TQ: Bye bye baby Marc Anthony: I need to know 64 6(-)5 6-7 (Rückung) 68 (Ausweichung) 6Y Necromantic sunshine: Lonely 6-X 86 |
Pendenzen ohne Tonika
Des weiteren ist bemerkenswert, dass zur Festlegung auf eine Tonart in diesen Fällen – und das ist das Verdienst der Entdeckung der Pendenz in der Rockpopmusik an sich – keine drei Akkorde, die das Tongeschlecht einer Tonart in sich tragen, ja nicht einmal mehr eine Tonika oder eine traditionelle Kadenz nötig sind. Dieser Meinung sind aber alle Autoren der klassischen Harmonielehrebücher.[1] Die Klassik hat solche Kompositionen, die aus nur zwei (diatonisch) alternierenden Akkorden bestehen, zu keiner Zeit hervorgebracht. Deshalb konnte so eine Funktion von Akkorden mit klassischen Theorien freilich nie entdeckt und beschrieben werden. Die zwei Ebenen Melodik und Harmonik können dies davon befreit minimalistisch erledigen, um Tonikalität zu erzeugen, selbst wenn diese gar nicht akustisch erscheint. Alle Pendenzen mit Dreiklangsakkorden im Sekundabstand enthalten schon sechs von sieben Skalentönen und können deshalb kadenzlos die Tonalität vollständig darstellen.[2] Die Konsequenz ist, dass entweder das Wort Kadenz redefiniert werden muss oder für Pendenzen ungültig ist, weil sie ja in der Klassik gar nicht existieren und demzufolge nicht definitorisch berücksichtigt werden konnten. Es ist phänomenal, dass eine Tonika für Pendenzen fehlen darf, ohne das Tonalitätsgefühl zu verlieren.
[1] Hermann Grabner (Handbuch der funktionellen Harmonielehre. Bosse Musik Paperback, Kassel 1974, S.27) spricht in diesem Zusammenhang von Trägern der Tonalität, die nur durch die Hauptfunktionen T, S und D repräsentatierbar sind. Die Pendenzen in Rockpop widerlegen das, wovon er ja freilich keine Ahnung haben konnte. Hingegen schreibt Schmid 2012 Seite 53: >>Ziel einer Kadenz: Die Festigung der Tonart, weshalb der Leitton auf jeden Fall vorkommen sollte (wenn möglich sogar sehr stark).<<
[2] Wolf, Erich: Die Musikausbildung, Bd.2: Harmonielehre. Breitkopf & Härtel, Wiesbaden (1972) 1992, S.87: >>Eine Akkordfolge, durch welche die wichtigsten harmonischen Bezüge einer Tonart dargestellt werden, wird als Kadednz bezeichnet.<<
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34 Jhelisa: Frendly pressure 43 Lil‘ Flip feat. Lea (RnB): Sunshine 45 |